Kauf auf
Rechnung
Versand innerhalb
Deutschlands gratis ab 35€
  • Merkzettel Merkzettel
    0
  • Warenkorb Warenkorb
    0 0,00

Mit dem Fahrrad von Hamburg nach Berlin: Zwei Lektionen, um 310 Kilometer zu schaffen

von Tilman Wrede

Tipps

Der Wecker ist nicht gestellt, aber um 09:00 Uhr soll es losgehen: Von Hamburg nach Berlin und zum großen Teil am Elberadweg entlang. Als ich um 08:39 Uhr aufwache, regnet es. Meine Motivation ist gering. Mein Mitbewohner leidet mit und macht ein Frühstück mit Obst, Brötchen, Käse, Speck und Ei. Um 11:11 Uhr verlasse ich die Wohnung in Hamburg-Altona. Die erste Stunde durch die Stadt fahre ich sehr konzentriert, die Radtaschen am montierten Gepäckträger wackeln bei jeder Bewegung des Körpers. Doch ich komme immer besser in einen Rhythmus und das Wackeln wird weniger. Der Nieselregen nicht.

Nach zwei Stunden Stadtverkehr finde ich den Zugang zum Elberadweg, der am Fluss entlang führt. Nach kurzer Zeit verlasse ich diesen jedoch schon wieder: am Wald in Ufernähe gibt es auch einen Weg: "Fahrräder verboten" steht auf dem Schild. Ich beschließe durchzufahren. Nach 10 Metern bleibe ich an einer großen Wurzel hängen und liege auf dem Boden. Lektion eins: Verlasse nie den Radweg. Daran halte ich mich danach und werde nach dem Waldstück belohnt - mit einem gepflastertem Weg auf dem Deich.

Die letzte Stunde und Kilometer 100 bis 120 sind das Plus für die erste Etappe und enden in einem Waldabschnitt in einem Anglergebiet. Das kleine Stück Wald ist vom Weg kaum zu sehen. Am Rand mit Sicht auf angrenzende Felder finde ich meinen Schlafplatz. Ich mache es mir in der Hängematte bequem, mit Wollsocken, Trainingshose, langem T-Shirt, Fleece und Mütze im Schlafsack. Doch viel hilft es nicht, der Wind fegt durch die Bäume und lässt die Blätter die ganze Nacht rascheln. In der Hängematte ist es durch die Luft von unten kälter als erwartet. Immer wieder wache ich auf. 23:39, 01:12, 03:11 Uhr, 05:56 Uhr, 08:13 Uhr sind die Zeiten, an die ich mich erinnern kann, auf die Uhr geguckt zu haben. Bei der letzten entschließe ich mich, aufzustehen. Das rechte Knie macht sich sofort bemerkbar und tut weh.

Der zweite Tag fängt unter erschwerten Bedingungen an. Ich bin müde und es ist kalt, windig und grau. Ich friere, fahre los und ziehe erst später die lange Hose und das Fleece aus. Anhalten. Ausziehen. Weiterfahren. Anhalten. Hinsetzen. Frühstückspause. Weiterfahren. Das Ganze wiederholt sich mit Zähneputzen, Wassertrinken und Musik ändern. Schnell merke ich, wie wichtig es ist, in einen Rhythmus zu kommen und so wenig Pausen wie möglich zu machen. Lektion zwei: immer weiterfahren und keine Pause machen. Nach 60 Kilometern entlang der Elbe, von Rüterberg in den kleinen Ort Hinzdorf, pausiere ich jedoch für die einzige warme Mahlzeit auf der Reise.

Das Pfannkuchenhaus in Hinzdorf hat geschlossen, also wird es Schnitzel mit Kartoffelsalat und Bier. Nach der Stärkung werden die Versprechungen der Gastwirtin für die kommenden Kilometer wahr: "Oh, bis nach Havelberg, das ist eine besonders schöne Strecke." Und so ist es: rechts vom Deich das Wasser, links Häuser, Höfe, Bänke und Stühle aus Plastik, belegt mit den ausgeblichenen Kissenbezügen, die ich zuletzt bei meiner Großmutter gesehen hatte. Auf dem Deich: ich mit Fahrrad. Auf der anderen Seite des Wassers: Trecker, die die Felder abfahren.

Hinter Havelberg wandelt sich das Panorama sofort: Landstraße mit Radweg. Die Elbe lasse ich hinter mir. Schnell finde ich einen Aussichtsturm, in dem ich die Chance auf einen Schlafplatz sehe. Hängematte aufgehängt und eingerichtet. In dem Turm ist es dunkel und still, die Nähe zur Landstraße und an einem öffentlichen Platz zu sein, bereitet mir ein ungutes Gefühl. Bei jedem vorbeirasenden Auto zucke ich zusammen und frage mich, ob ich hier schlafen darf oder nun jemand kommt, der mich wegscheucht.

Mit der Zeit kommen auch Besucher, allerdings mit Fernglas und sie genießen die Artenvielfalt in angrenzenden Naturschutzgebieten. Gänse, Enten, Kraniche, Seeadler brüten hier ihren Nachwuchs. Auch ich verliere mich im Beobachten: Bäume und Kühe auf der einen Seite der Straße und ein Sumpf mit Vögeln auf der anderen. Die Vögel zwitschern und die Insekten im Sumpf surren. Wie viele verschiedene Arten hier leben, kann ich schwer einschätzen, Biologie war nie mein Fach. Die Abendsonne bringt Glanz in die friedlichen Lebensräume der Tiere. "Du willst hier schlafen? Mich stört das nicht", sagt ein Besucher und zuckt mit den Schultern, "wenn du mit deinem Schnarchen nicht die Vögel störst."

Die zweite Nacht war besser als die erste, ich konnte mich ausstrecken, wenden, schlafen ohne aufzuwachen. Morgens spüre ich beide Knie und weiß sofort, dass ein langer Kampf bevorsteht. Dieses Mal starte ich anders: erst aufräumen, dann frühstücken, Zähne putzen, dehnen und dann geht es los. Und die ersten zwei Stunden lieber langsam fahren, aber dafür konstant.

Das Vorhaben glückt und ich finde meinen Rhythmus. Die Landschaft: Felder, Dörfer, grauer Himmel, grüne Bäume. Es riecht nach nassen Wiesen und gemähtem Gras. Ich hangle mich von Dorf zu Dorf. Kuhlhausen, Friesack, Wiesenaue, Paulinenaue, Nauen. Vor Nauen ist ein Radweg ausgeschildert, doch ich folge der Landstraße neben Lkw, weil der Weg auf der Karte viel kürzer aussieht. Lektion eins werfe ich über Bord: Heute wird kein Kilometer zu viel gefahren. Der kürzeste Weg nach Berlin.

Von Nauen bis Falkensee führt eine lange Bundesstraße. Zwei Stunden gibt das Navi vor. Ich schaffe es schnell, in einen Rhythmus zu kommen und mich zu fokussieren. Bloß nicht anhalten, einfach weiterfahren. Für zwei Stunden.

Belohnt werde ich am Ortseingang von Falkensee mit einer Tankstelle. Ich gehe sofort hinein und kaufe mir ein Eis. Erfrischend und lecker. Das tut gut. Der Holzstiel wird bis auf den letzten Tropfen vom Eis entfernt, ehe ich das Handy zücke. Noch 21 Kilometer bis zum Ziel. Nach drei Tagen und 289 Kilometern sehen diese 21 Kilometer aus wie zwei Tritte in die Pedale. Die ersten 10 fühlen sich leicht an. Die letzten elf schwer. Immer wieder muss ich an einer Ampel anhalten, an einem Berg anfahren, eine Straße überqueren.

Links und rechts neben mir sind schon lange nicht mehr Deich und Wasser, sondern nun Häuserblocks und Geschäfte. Es gibt nicht mal ein richtiges Ortsschild: Berlin. Es ist einfach da, und ich fließe herein, ohne es wahrzunehmen. "Die nächste Straße rechts abbiegen, dann befindet sich das Ziel auf der rechten Seite." Ich bleibe stehen. Atme durch. Bin in Berlin. Und hab's geschafft. Ich habe die Wohnung eines Freundes erreicht und bin in drei Tagen von Hamburg nach Berlin gefahren. Meine Taschen packe ich sofort aus und humpele unter die Dusche. Zurück in der Zivilisation. Das Bett habe ich nicht angerührt. Da hätten mich meine erschöpften Beine so schnell nicht wieder herausbekommen. Zuerst kümmere ich mich um mein Energielevel und frage den Bewohner um Rat: "Heinrich, wie heißt dein Lieblingsdöner hier in der Nähe?"

Unterwegs der Outdoor-Shop